Über mich

Es haben schon sehr viele Menschen versucht, eine Schublade für mich zu finden. Und möglicherweise suchst du auch gerade nach einer für mich. Das machen Menschen so, um sich zu orientieren, Erlebtes einzuordnen, zu verstehen. Bei mir ist es wichtig zu verstehen, dass ich in keine dieser Schubladen passe. Und vermutlich gibt es noch sehr viele andere Menschen, die weit mehr sind, als auf ihrer Schublade steht.

Ich bin aufgewachsen in gutbürgerlichen Verhältnissen. Mein Vater Professor, meine Mutter Chemikerin ohne Berufsausübung und später Schneiderin. Ich habe einen jüngeren Bruder, wir lebten erst in Berlin und dann in der hessischen Kleinstadt Butzbach. Ich galt als Vorzeigekind, immer brav, gut erzogen, ich spielte Geige und ging auf eine christliche Privatschule. Meine Eltern gingen davon aus, dass ich nach einem guten Abitur an einer Universität Maschinenbau oder Wirtschaftsingenieurwesen studiere und dann mit meinem Aktenköfferchen in eine große bekannte Firma pendele. Ich ahnte schon früh, dass das ein Problem für mich wäre, konnte aber nichts konkret greifen.

Viele beschrieben mich damals als zu ernsthaft, andere als frühreif. Ich übernahm sehr früh schon Verantwortung für Dinge, die andere überhaupt gar nicht interessierten. In mir brodelte es. Da war ein mit Magma gefüllter Vulkan. Den unterdrückte ich unbewusst so gut es ging, weil ich sonst Liebesentzug fürchtete. Im Alter von 15 Jahren sagte mir eine Kassiererin in einem Supermarkt: “Guck nicht so böse!” Ich kaufte gerade für eine fünftägige Wanderung mit den Pfadfindern ein. Die Jungs, die ich führte, waren nur zwei Jahre jünger als ich. Ich überzeugte deren Eltern davon, diese Veranstaltung ohne Erwachsene durchzuführen. Sie vertrauten mir ihre Jungs für die fünf Tage an. Wir zelteten illegal im Odenwald und kochten auf offenem Feuer im Dickicht. Jetzt, da ich selbst Papa bin, kommt mir das völlig undenkbar vor. Damals gab es keine Älteren mehr in unserer Gruppe. Sie waren gegangen, zwei Jahre vor diesem Einkauf. Zusammen mit meinem Sandkastenfreund entschieden wir im zarten Alter von 13 Jahren, dass diese Gruppe am Leben bleibt. Sie ist es bis heute. Mein Sandkastenfreund nicht. Wir waren das Dream Team. Der Tumor beförderte ihn 2020 auf die andere Seite. Ich durfte mich aufgrund der Corona-Auflagen noch nicht mal richtig von ihm verabschieden. Wir werden uns zu einem anderen Zeitpunkt wiedersehen.

Im Alter von 7 Jahren, im Jahr 1985, sah ich in der Aula der Grundschule Butzbach zusammen mit anderen Schülern drei Filme. Der erste handelte von der Vorstellung, dass die Luft soweit verschmutzt ist, dass Menschen nur noch mit Gasmasken überleben. Der zweite veranschaulichte, was passiert, wenn es kein Trinkwasser mehr gibt. Im dritten Film wühlten sich Menschen durch meterhohe Müllberge, mit der die Welt bedeckt war. Ich war gerade vom mit Smog verseuchten Berlin nach Mittelhessen gezogen, wo ich mich vor allem auf den Garten und meine Katze freute. 

Damals war mir nicht bewusst, dass ich zu den 2% der Weltbevökerung zähle, die hochempathisch sind. Es sollte noch fast vier Jahrzehnte dauern, bis ich das dann endlich lernte. Es hätte mir damals erklärt, warum die Filme die meisten Kinder ziemlich kalt ließen, mich aber fassungslos zurück ließen und sich mir unwiderruflich tief in mein Gehirn einbrannten. 

Exakt an meinem 12. Geburtstag fiel die Berliner Mauer. Ich, der ich in West Berlin geboren wurde und den inneren Schmerz eines fremden Menschen auf dem Bahnsteig spüre, saß wie gebannt vor dem Fernseher und konnte es nicht fassen.

Ab dem 13. Lebensjahr reiste ich. Überall hin. Ich wollte alles wissen, über möglichst viele Menschen, Kulturen, Natur, und vor allem wie alles zusammenhängt. Europa, Amerika, Afrika, Asien, Neuseeland. Am liebsten mit dem Fahrrad oder dem Rucksack. Ich fand ziemlich viele Antworten. Und noch mehr Fragen. Ich verstand, warum 2004 die Menschen in Vietnam für die Natur keinen Nerv hatten, bei 400$ Jahreseinkommen und einer durch den Krieg getilgten Generation. Ich verstand, warum sich 2002 in Südafrika Weiße im eigenen Haus mit Stacheldraht verschanzten und schwarze Hauswirtschafter beschäftigten. Ich verstand, wieso die als Mopedtaxifahrer getarnten Rebellen in Mandalay 2005 bezüglich des Tourismus im Land eine andere Meinung hatten als die Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Ich verstand, warum die Neuseeländer 2008 keine Lust hatten, sich kaputt zu arbeiten, und es am frühen Abend in der Hauptstadt außerhalb der Saison kein offenes Restaurant gab. 

Ich verstand nicht, wieso Quebec immer wieder Anstrengungen unternahm, sich unabhängig von Kanada zu machen. Ich verstand nicht, warum Japaner so geniales Essen und eine Kultur der Ordnung und Höflichkeit haben, aber auf riskante Kernkraftwerke setzen. Ich verstand nicht, warum ich in den Weiten Nordamerikas irgendwie auch als stark Vorgeprägter nach drei Monaten das Gefühl bekam, dass die Ressourcen unendlich seien. Ich verstand nicht, wieso 2010 die Luft im bereits elektrifizierten Peking des diktatorischen Chinas so viel sauberer war als im demokratisch geführten Taipei, in dem Zweitakter zum Straßenbild gehörten. Ich verstand nicht, wie mein Drang zu reisen und mein Drang die Welt zu beschützen irgendwie zusammen passen konnten. Später lernte ich, dass das der Grundkonflikt des Menschen ist, einerseits nach Autonomie und andererseits nach Bindung zu streben.

Ich verstehe nicht, warum nicht alle Menschen auf der Welt sich mit allen anderen verbunden fühlen können. Ich verstehe nicht, wieso der Mensch so wenig Rücksicht auf unsere Lebensgrundlagen nimmt. Wir alle hängen voneinander ab und leben auf dem gleichen Planeten. Ein E-Auto ohne Afrika ist genauso wenig denkbar wie ein Handy ohne Asien.

Hier kannst du dir ein Bild machen, was ich mir angesehen habe. In Deutschland habe ich nur Wohnorte markiert, der Rest der Welt ist nicht ganz vollständig:

Ich habe die Begabung zu erkennen, wie es einem anderen Menschen geht. Wenn es jemandem nicht gut geht, ist da diese Dysbalance. Ich kann es nicht nicht sehen. Nicht selten merke ich es, bevor derjenige oder diejenige es selbst bemerkt. Wenn ich einen Raum betrete, ist der voll mit Dysbalance. Wenn ich durch eine Fußgängerzone gehe, registriere ich all diese Kleinigkeiten. Ein Kind trottet traurig neben seiner Mutter her. Eine Frau starrt ins Leere. Zwei unsichere Jugendliche streiten sich über irgend etwas. Ein Obdachloser bettelt. Die Verkäuferin liebt ihren Job schon lange nicht mehr. Ein Pärchen schaut sich verliebt an und zieht sich gedanklich schon aus. Irgend jemand aus irgendeinem Büro hetzt völlig überarbeitet durch die Gegend und sucht kurzfristige Kompensation. Ein Mann genießt vor einer Eisdiele die Sonne. Ein Paar, das sich schon sehr lange nicht mehr liebt, erledigt den gewohnten Einkauf. Eine mit Menschen gefüllte Fußgängerzone ist unglaublich anstrengend für mich. Nicht selten überfordert es mich, wenn zu viel Dysbalance auf engem Raum ist.

Menschen mit psychischen Problemen ziehe ich magisch an. Ich verstehe sie, und sie merken es. Wenn ich nicht aufpasse, frisst mich so etwas auf. Ich habe das Bedürfnis, alle Probleme, die ich sehe, einfach abzustellen. Ich sehe die Lösungswege einfach vor mir. Ich möchte die Welt umarmen und ihr sagen, dass alles gut wird. Genauso einsame Frauenherzen. Ich verstehe sie. Aber ihr Problem müssen sie selbst lösen.

Wenn ich einen Menschen berühre, weiß ich intuitiv, wo es klemmt. Und wo es gut tut. Massage habe ich mir selbst beigebracht. Es kommt einfach aus mir raus. Früher hätte man gesagt, ich bin ein Schamane. Ich möchte mit allem in Verbindung stehen und sehe so viele gekappte Leitungen. Ich habe die Fähigkeit, zur Heilung beizutragen, aber wenn ich nicht aufpasse, gehe ich selbst dabei drauf. Die Zeit, in der ich im Krankenhaus gearbeitet habe, war auch diesbezüglich eine tolle und grenzwertige Sache zur gleichen Zeit. 

Dass mir das Reparieren immer wichtig war, ist auch kein Zufall, es ist auch nur eine Form des Heilens. Elektronik, weiße Ware, Spielzeug, Fahrräder. 2022 wurde mir klar, dass das Reparieren ein Kerngedanke der Circular Economy ist, die mittlerweile ein wichtiges Ziel der EU ist.

Ich fühle mich mit Urvölkern wie den Samen am Polarkreis verbunden. Deren Schamanen wissen seit zigtausend Jahren, wie geheilt werden kann. Dieses gigantische Wissen ergänzt für mich die Schulmedizin. In den USA gibt es längst Krankenhäuser, in denen Schamanen neben Schulmedizinern heilen. Während der Christianisierung wurde den Schamanen vielerorts die Praktik verboten. In unseren Köpfen ist immer noch drin, dass man das nicht denken darf. Es sollen böse Hexer sein. Wenn überhaupt, sind es weiße. Ich denke eher, dass es kein gut und böse gibt, kein schwarz und weiß. Es gibt Grauabstufungen und Traumata. Und wenn du es zulässt, einen Regenbogen. 

Schamanen gehen davon aus, dass alles beseelt ist. Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, sogar Steine. In allem steckt das Göttliche. Es ist für mich kein Widerspruch, meine christlich geprägte Vergangenheit, Schamanismus und die Sichtweise der buddhistischen Mönche, mit denen ich in der Swedagon Pagode gesprochen habe, miteinander in Einklang zu bringen. Da sehe ich keine Dysbalance. Sie sprechen alle vom Gleichen. Und bekämpfen sich mitunter gegenseitig.

Ich koche und esse unheimlich gerne. Das mache ich für mein Leben gerne. Gelernt habe ich das Kochen auf offenem Feuer in einem großen Kessel. Einmal habe ich zwei Wochen lang für 60 Menschen auf einem Zeltlager gekocht. Nun sind es täglich nur 8 Personen, mit immer noch größeren Töpfen als die des westlichen Durchschnittsbürgers. Beim Kochen entspanne ich, und das Probieren und Naschen dabei macht mich fast so glücklich wie die zufriedenen Abnehmer meines Essens. Neue Inspirationen koche ich erst nach Rezept, dann so frei wie möglich. Manchmal zaubere ich aus irgendwelchen Resten etwas Leckeres, nur aus dem Bauch raus und mit den Sinnen und dem Wissen, das ich habe. Eine Uhr brauche ich dazu niemals, damals im Wald hatte ich die genauso wenig wie einen Temperaturregler oder eine Induktionskochplatte. Zutaten verwende ich möglichst unverarbeitet, frisch und in Bio-Qualität. Lieber ein paar wenige gute Zutaten als eine gigantische Liste in Durchschnittsqualität.

In Uruguay kam ich mit dem schlechten Essen vor Ort nicht klar, und ich schwor mir: Ich reise nur noch in Länder, in denen das Essen gut ist. Meine schlechte Laune möchte ich auch niemandem zumuten. Und liebe Uruguayos, ihr wart unglaublich freundlich zu mir. Unvergessen die Szene, als ich mit Radklamotten nach einer Tankstelle gefragt habe und sich die gute Frau kaputt gelacht hat, warum auch immer ich die brauchte.

Mein Körper verträgt kein Weizen. Die Symptomliste ist ziemlich lang, wenn ich mich nicht daran halte. Ein Symptom finde ich besonders krass: Ich habe mit Weizen mehr Angst. Das habe ich mehrfach ausgetestet, und es ist so. Ich habe mittlerweile ohne Weizen so gut wie vor gar nichts mehr Angst, aber mit Weizen bombt es mich für eine Weile zurück. Mal angenommen, das wäre bei anderen Menschen auch feststellbar, welche gigantischen Auswirkungen hätte eine kleine Korrektur des Speiseplans?

Das 2er Abitur machte ich eher nebenbei. Die Schule war kein Drama, aber auch nicht sonderlich interessant. Es erschien mir sinnvoller, die 80% ohne Lernen zu schaffen als die 100% mit viel Lernen. Dass das 80-20-Prinzip im 19. Jahrhundert durch Vilfredo Pareto erfunden wurde, sagte mir damals niemand, ich machte es intuitiv. Noch heute treibt diese Arbeitsweise den ein oder anderen in meinem Umfeld in den Wahnsinn. Für mich machte es schon damals sehr viel Sinn, da ich mich für alles Mögliche sehr Zeitintensive interessierte und alles zeitlich unterbringen wollte: Fahrradtechnik, Triathlon, Tanzen, Musik, Reisen. Zur Finanzierung trug ich mit 14 Jahren schon Zeitungen aus, später verkaufte ich an Mitschüler und Leute aus dem Ort aus dem Keller heraus Fahrradteile und Reparaturen.

Dinge, die mich interessierten, saugte ich auf wie ein Schwamm. Ohne es zu wissen, arbeitete ich sehr früh schon als Autodidakt. Lego baute ich nur das erste Mal mit der Anleitung, danach frei. Das wurde mir mit 9 Jahren zu langweilig, und ich ging zu Lego Technic über. Mit 11 Jahren hatte ich die großen Bausätze für 14jährige satt und begann mit einem Elektronik Experimentierkasten. Ich baute alle angebotenen Schaltkreise durch und wollte mehr. Ich besorgte mir Bücher, leere Platinen und Bauteile für meine eigenen Ideen. Ein Radio, eine Sprechanlage, ein Lichtleitersystem zur Nachrichtenübermittlung, eine Alarmanlage. Meine Schränke quollen mit ausgeschlachteten Platinen, Lautsprechern und Kabeln über. Unser Nachbar schenkte mir einen defekten Verstärker zum Ausschlachten. Ich reparierte ihn stattdessen und benutzte ihn fortan für meine Musik. Mit Musik konnte ich mich damals schon in alle möglichen Richtungen steuern. Wenn ich nicht aufpasste, versank ich im Weltschmerz. Wenn ich mir darüber bewusst wurde, konnte ich den Action Knopf drücken. Die nächste Action war das Thema Fahrrad. Das sollte weit mehr für mich werden als nur eine Durchgangsstation. Es begann etwa zeitgleich mit meiner Führungsaufgabe bei den Pfadfindern.

Eng verwoben mit meiner Hochempathie war schon immer das Thema Grenzen. Bewusst war mir das lange Zeit nicht. Es ist die “Story of my life”. Ich suchte regelrecht die Grenzerfahrung. Und ich ging in die Extreme. Zum Beispiel einerseits Geige spielen und dann am Wochenende in die Techno-Disko. Das war für mich kein Widerspruch. Niemand verstand das, und ich selbst verstand es erst so richtig mit 45 Jahren. Ich tanzte mich in Extase, nahm nichts mehr um mich herum wahr. Es war mir gleichgültig, ob irgendjemand mich dabei komisch fand, so nassgeschwitzt und mit geschlossenen Augen. Das habe ich stundenlang am Stück gemacht. Ich stand damit irgendwie mit der Welt und mit mir in Verbindung, und mein Vulkan wurde etwas zahmer. Außerhalb der Disko fand ich Krach schrecklich. Ich wollte in die Natur und Ruhe pur. Dort liegt auch der Grund für meinen Weg in die Techno-Disko. Heute höre ich Electronic Music mit Kopfhörern und arbeite an eigener Musik, in der ich elektronische Beats und Natur verbinden möchte.

Ich hatte sehr lange Zeit größte Schwierigkeiten, mich abzugrenzen. Wer bin ich und wer der, dessen Perspektive ich gerade übernommen habe? Hochempathie bedeutet nicht einfach nur, dass man mehr mitfühlt. Es bedeutet, dass man mit allen Sinnen in den anderen reinkriecht und nachspürt, wie das ist. Das „Wieder-Rauskriechen“ ist für den Hochempathen eine Herausforderung. 

Ich spüre das auch bei Tieren. Wenn ein Hund Durst hat, meine Laufente unausgeglichen ist, eine Kuh leidet. Ich fühle mich der Katze nah. Katzen spüren auch, wenn es einem Menschen nicht gut geht und kommen zum Trösten. Katzen haben spontane Energie. Sie sind selbstbestimmt und stark. Und gleichzeitig verletzlich und zärtlich. 

Das Thema Rhythmus fand ich auch im Triathlon wieder. Meine Lieblingsdisziplin, das Radfahren, absolvierte ich mit ähnlichem Gefühl wie beim Techno, ich nenne es mal Flow. Ich spürte diese unbändige Kraft, die ich schon immer in mir trug, in diesen immergleichen trommelartigen Kurbelbewegungen. Mehr ein Zweitakter als eine Kreisform. Beim Laufen benötigte ich etwas mehr Zeit, um diesen Rhythmus zu finden, dann war er aber auch dort gefühlt unendlich möglich. Ich testete das bei 100km-Läufen, noch bevor ich 18 wurde und fand heraus, dass die Grenze mehr im Kopf als im Körperlichen liegt. Beim Schwimmen fiel es mir am schwersten. Das Schulschwimmen war eine Katastrophe, ich lernte gar nichts. Später beim DLRG-Schwimmen Donnerstag abends schluckte ich nur Wasser und kam auch dort nicht voran. Eigentlich hätte man empfehlen können, dass ich das Thema mal abhake. Doch es zog mich ins Wasser. Ich wollte es unbedingt, auch wenn ich es nicht konnte. Ein Wettkampf ohne Wasser wäre für mich irgendwie unvollkommen gewesen, die Erfahrung unvollständig. Ich war längst am Rennradfahren und am Laufen, das ging sehr gut. Ich hätte es dabei belassen können, es gab auch Duathlon-Veranstaltungen. Ich kaufte mir ein Lehrbuch und brachte es mir selbst bei, bis ich 3km am Stück kraulen konnte. Und dann kam auch dort der Flow. Wenn ich dann im letzten Drittel des Starterfeldes aus dem Edersee an Land gespült wurde, stellte ich auf dem selbst getüftelten Rennrad den Dampfhammermodus ein und fuhr wie in Trance 100 Leute oder mehr vor mir in Grund und Boden. Am liebsten mit großen Bergen auf dem Weg. Dass die damals noch aktive Triathlon-Legende Mark Allen mir Jahrzehnte später ohne sein Wissen durch eine Krise helfen sollte, ahnte ich damals nicht. Er ist ein Schamane.

Dann wollte ich die Selbstständigkeit. Ich wollte sie schon früh, und unbedingt. Immer wieder rannte ich mit diesem Willen gegen die Wand. Zum einen, weil ich mich gegen „das Übliche“ sträubte, mehr Menschlichkeit und mehr Umweltbewusstsein wollte. Das bezahlte mir jedoch kaum einer. Der zweite Grund liegt darin, dass ich der weltschlechteste Verwalter bin. Wenn du dein Büro im totalen Chaos sehen möchtest, nimm mich. Ich bin mit den Gedanken überall, nur nicht bei dem Papier, das vor mir liegt. Ich habe die nächsten fünf Ideen, die nächsten drei Erkenntnisse, will umsetzen und tun und machen.  Und nicht verwalten. Ich verwalte nie wieder eine Firma. Es ist einfach besser so. Der dritte Grund ist, dass mir Geld nichts bedeutet. Geld ist eine Zahl auf einem Stück Papier. Der Mensch hat es erfunden, es ist nicht Teil der natürlichen Weltordnung. Mir bedeuten Familie und Freiheit alles, und dafür benötige ich Geld. Es ist ein Mittel zum Zweck, mehr nicht. 

Als ich 2018 nach Wettenberg zog, arbeitete ich selbstständig für einen Kleinserienhersteller aus der Fahrradbranche. Er meldete Insolvenz an, bevor ich meine ersten Rechnungen bezahlt bekam. Ich konnte meine Miete erstmal nicht zahlen. 

Insolvenz meldete ich selbst 2013 mit zwei Fahrradgeschäften an, die ohne Vororder und mit hohem Reparaturanteil funktionieren sollten. Ich wollte es besser machen, aber es funktionierte nicht. Wenn solche Dinge nie ein Mensch probiert hätte, säßen wir noch in der Höhle. Wir hätten kein Auto und kein Handy. Es ist Schopenhauers Prozess der kreativen Zerstörung. Die erleben gerade die Menschen in der Fahrradbranche, die vor einer Weile noch mit dem Finger auf mich gezeigt haben. Ein Perspektivwechsel hilft, Dinge zu verstehen anstatt Urteile ohne Hintergrundwissen zu fällen. 

Bei dem Kleinserienhersteller lag es an dem Verzettelungsmix aus 90er-Jahre-Produkten, E-Bike-Projekt, Brand Store und branchenfremder Tätigkeit, bei explodierenden Kosten. Die 90er Produkte waren geil. Die Zeit dafür aber abgelaufen. Das E-Bike-Projekt zu spät. Der Brand Store ein Kompensationsversuch, mit neuen Verbindlichkeiten. Die branchenfremde Tätigkeit nicht mehr zielführend. Jemand anderes hätte die Firma auch nicht mehr retten können. Das Scheitern gehört dazu.

Bei mir war es der Verstoß gegen die Branchenregeln. Ich hatte mich gegen Cube entschieden, ich kann uniforme Massenware, der alle wie die Lemminge hinterherlaufen, nicht ausstehen. Stattdessen nahm ich Baukastenanbieter rein, die theoretisch sehr viel abdeckten. Ich reparierte unfassbar viel, für bis zu 10.000 Euro pro Woche, und verkaufte wenig. Die Leute wollten Cube. Meine Kosten explodierten. Ich stellte mich personell falsch auf. Ich verwaltete unzureichend. Ich lernte unglaublich viel. Es war der Grundstein für den German Design Award 2024. Damals war ich „der Böse“, bei manchen bin ich es immer noch.  Veränderer sind unbeliebt. Es soll alles so bleiben wie es ist. Deutschland wurde gerade in einer britischen Zeitung als „Unfall in Zeitlupe“ beschrieben, weil die Wahl zwischen Stillstand und Rückschritt nirgendwohin führt. Es wird am Alten festgehalten, bis das Schiff gesunken ist. Deutschland kann keine Insolvenz anmelden.

Ich spreche offen über das Scheitern, weil ich es für die Zukunftsgestaltung für essentiell halte. Und mit dem eher zufällig in der Corona-Zeit entwickelten Fahrradwerkstattkonzept und dem German Design Award 2024 ist es so wie Winston Churchill es einst sagte: Du bist erfolgreich, wenn du einmal mehr aufstehst als du hinfällst. Fehler sind nicht etwas, was man vermeiden sollte. Man sollte möglichst viele machen, um möglichst viel zu lernen. Das Gegenteil dessen tun, was die Schule lehrt. Ansonsten sind wir nur Marionetten in einem Theater.

Neben dem Leben beschäftigte ich mich mit dem Tod. 1998 gab es in Deutschland die Wehrpflicht. Ich verweigerte, weil ich nicht mit der Waffe auf jemanden zielen und abdrücken kann. Ich wich auf den damals möglichen Zivildienst aus. Entgegen meinen Altersgenossen hatte ich keine Lust auf 13 Monate an irgendeiner Pforte oder in einem Archiv. Ich wollte mehr. Und bekam es. Wieder einmal kam ich an einer Grenze an. Sie setzten mich auf Intensivstation ein. Drei Monate lang dachte ich jeden Tag: Das schaffe ich nicht! Dann gab ich der Sache am nächsten Tag doch noch eine Chance. Nach dem viertel Jahr war die Grenze aufgelöst und der Flow drin. Die Erfahrung gehört zum Besten, was ich jemals erlebt habe. Am letzten Tag durfte ich unter Aufsicht einen Beatmungspatienten alleine versorgen. Aber bis dahin hatte ich immer wieder Tote in den Kühlkeller gefahren. Der Tod gehört zum Leben. Ich las ein Buch über Nahtoderfahrungen. Am 16. Februar 2004 machte ich diese selbst, nachdem in meinem Bauch etwas unbemerkt geplatzt war. Sie schnitten mich auf und retteten mich. Es kam zu Komplikationen. Sie mussten mich ein weiteres Mal aufschneiden. Ohne fremde Hilfe konnte ich das Krankenhaus nicht verlassen. Die Narbe juckt ab und zu und erinnert mich daran. Seit diesem Vorfall habe ich keine Angst mehr vor dem Tod. Es geht danach weiter, soviel weiß ich. Und es macht umso mehr Sinn, jeden Tag auf diesem Planeten bestmöglich zu nutzen. Es gibt nirgendwo im Universum Hinweise auf anderes Leben. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass wir überhaupt existieren. Ich bin dankbar für jeden Tag, der mir zur Verfügung steht.

Im Wald fand ich Ruhe. Am liebsten war ich dort über Nacht, mit einem Schlafsack auf einer Matte, ohne Zelt. Ich spürte diese Verbindung zur Natur. Ich wollte sie sehen, hören, riechen, anfassen. So träumte ich schon mit 10 von der nordischen Wildnis und inhalierte ein Waldläuferbuch über Lappland. Dass ich 2024 tatsächlich konkret darüber nachdenken sollte, nach finnisch Lappland zu ziehen und diesen Kreis schließen zu können, ahnte ich damals nicht. Auch nicht, welche Rolle die Ureinwohner dort für mich spielen. Mit 16 bekam ich das Angebot, mich für einen dreimonatigen Schüleraustausch nach Edmonton, Kanada, zu bewerben. Ich bewarb mich sofort und feierte meinen 17. Geburtstag in Kanada. Die Weite außerhalb der Stadt machte mich sprachlos. 

Ich merkte in den kanadischen Rockies, dass ich mich in meinem unbändigen Freiheitsdrang gleichzeitig nach genau dem Gegenteil sehnte: nach unbedingter Bindung. Ich wusste damals schon, dass ich Familie möchte. Und endlose Freiheit. Gleichzeitig.  Ich fand meine Familie nach erheblichen Umwegen im Jahr 2013. Ich lernte die Frau meines Lebens kennen. Sie brachte mir fünf Kinder mit. Wir haben zusätzlich zwei gemeinsame. Eine weitere Grenzerfahrung, zu der ich sofort ja sagte. Die beste, die ich jemals machen durfte. 

Mein jüngster Sohn trägt einen unbändigen Vulkan in sich. Er will alles, und zwar jetzt. Er lebt das gleiche intensive Leben wie ich, das kaum zu kommunizieren ist. Er hält mir jeden Tag den Spiegel vor: Setz dich mit dir selbst auseinander! Du wolltest doch diese Erfahrungen! Renn nicht weg! Ich will so viel Nähe, dass kein Blatt dazwischen passt! Und meine unabdingbare Freiheit, mehr als jeder andere! Gleichzeitig! Jetzt! Versteh das doch mal! 

Der menschliche Grundkonflikt, Autonomie versus Bindung, ist auflösbar. Ich stehe kurz vor der Lösung.

Im Grunde suchte ich immer wieder nach den gleichen Dingen:

  • Die Verbindung zu mir selbst,
  • die Verbindung zur Natur,
  • die Verbindung zu anderen.

Ich habe mit meinem Fahrradkonzept SAYA den German Désign Award 2024 gewonnen. Das Konzept funktioniert nach den Prinzipien der Circular Economy und orientiert sich an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen. Ich habe das Ding in einer Bretterbude mit drei Wänden ohne Heizung geschaffen, aus einem Berg Schrott, unter z.T. Corona-Bedingungen und mit Großfamilie. Meine Branche sagte mir vier Jahre lang: Das geht nicht! Es geht doch. Und nein, ich heiße nicht Tony Stark. Aber ich akzeptiere nicht die üblichen Grenzen, weil ich weiß, dass viel mehr geht. Ich möchte der Welt sagen: 

Lebe, was du für richtig hältst.

Verschiebe deine Grenzen und löse sie auf, sie sind nur in deinem Kopf.

Repariere die verloren gegangenen Verbindungen zu dir selbst, zur Natur und zu anderen.

Wir können unsere globalen Krisen lösen, wenn wir das möchten.

Im Alter von 6 Jahren saß ich in einer Kirche in Berlin in einem Klassikkonzert. Eigentlich nahm ich nur ein einziges Instrument wahr, wie in einer Art Tunnel, wie gebannt. Es war die erste Geige. Heute würde ich sagen, sie berührte meine Seele. Die Wissenschaft sagt, dass die Seele nicht existiert. Das liegt daran, dass sie nicht messbar ist, sich nicht messen lassen möchte. Und dennoch hat diese Geige meine Seele damals berührt (und abgesehen davon sah bei meiner Nahtoderfahrung 2004 meine Seele meinen Körper von oben). Ich sagte daraufhin meinen Eltern, dass ich Geige spielen möchte. Ich wollte es unbedingt. Nach unserem Umzug nach Butzbach fing ich mit 7 Jahren mit dem Unterricht an. Meine erste Geige war eine „halbe Geige“, also eine sehr kleine. In meiner Vorstellung sollte sie sich so anhören wie in Berlin in dem Konzert. Die ersten Versuche waren frustrierend. Ich bekam einen Wutanfall und warf die Geige auf den Boden, so dass sie kaputt ging. Irgendwie kam ich dann doch noch voran, bekam eine 3/4 Geige und später eine ganze. Die Etüden langweilten mich. Es war immer noch nicht so, wie ich es mir vorstellte. Und natürlich hatte ich mir eines der schwersten Instrumente überhaupt ausgesucht. Den Finger einen Hauch eines Millimeters woanders, und schon ist der Ton schief. Keine eindeutigen Griffpositionen wie bei der Gitarre, keine eindeutigen Tasten wie beim Klavier. Mendelssohn war nicht so verkehrt. Ich spielte in der Wendelinskapelle in Butzbach vor Publikum. Ich war schweißnass vor Stress, meine linke Hand so glitschig, dass sie kaum Halt fand. Meine rechte Hand zitterte und ließ den Bogen springen. Dann kam Vivaldi, der Frühling. Das kam meiner Vorstellung schon näher. Ich spielte zusammen mit meinem Vater am Klavier in der Feierstunde des Bußtagstreffens der Heliand-Pfadfinderschaft. 

Das Thema Fahrrad verdrängte die Geige, als ich 19 war. Ich hörte auf. Dann zog ich aus und ließ die Geige bei meinen Eltern. Sie blieb dort für 2 1/2 Jahrzehnte. 

Im November 2013 hatte ich kein Zuhause. Meine Ehe war zerrüttet, ich wohnte im Jugendzimmer eines guten Freundes und hing außerhalb der Öffnungszeiten in meinem Laden herum. Ich machte Kerzen an und das Licht aus. Die LEDs des Ladencomputers leuchteten blau, und auf dem Bildschirm hatte ich Musik entdeckt. Lindsey Stirling hatte ihren Durchbruch mit einem ziemlich abgefahrenen Dub-Album.  Lindsey spielt Geige. Es gibt nichts, was sie lieber macht. Sie bekam früher gesagt, dass das eh nichts wird, und nun hatte sie also ihr Album am Start. Ihre Titel hießen „Elements“, „Moon Trance“, „Shadow“, „Song of the caged bird“, „Transcendence“. Und sie berührten meine Seele. Sie beruhigten mich in einer Situation, die in jeder Hinsicht aussichtslos erschien. Meine Firma war im Eimer, meine Beziehung kaputt, der ganze Sinn meines Daseins erschloss sich mir nicht. Ich hörte die Songs rauf und runter. Am 23. November 2013 lernte ich mein größtes Glück kennen. Sie nahm mich einfach so, wie ich war. Angeschlagen, verletzt, erschöpft, frustriert, unperfekt, unausgeglichen, gescheitert, am Boden. Und richtete mich auf. Ohne zu fordern, ohne etwas zu erwarten, ohne Hintergedanken. Sie tat es einfach so. Und nimmt mich bis heute einfach so, wie ich bin.

August 2024. Ich habe mich für die Intro Classes bei einem schamanischen Institut in der Nähe von Mt. Hood in den USA registriert. Die Zeitverschiebung beträgt neun Stunden, meine Kinder möchten aber toben und Fußball spielen, ich nehme nicht teil. Naja, war ja nur so eine Idee. Ich nehme es entspannt und spiele Fußball. Ich bekomme Links für die Aufnahmen der Veranstaltung geschickt. Oh, das ist cool, dann schaue ich mir das mal in Ruhe an. In der ersten Einheit tauchen Fragen auf: Spürst du, wie es anderen Menschen geht? Ja, sehr intensiv. Spürst du kleinste Energieveränderungen im Raum? Ja, schon immer. Fühlst du dich tief mit der Natur verbunden? Ja, schon immer. Kommen andere Menschen mit ihren Problemen zu dir? Ja, das gab es sehr sehr oft. Alle weiteren Fragen beantworte ich ausnahmslos mit ja. Ich bin verblüfft. Es werden Teilnehmer eingeblendet, die die Dinge genauso wahrnehmen wie ich. Das mit meiner Hochempathie weiß ich ja erst seit 2022, mir war das alles ja über Jahrzehnte nicht klar. Und nun stellt sich heraus, dass es andere Menschen gibt, die so ticken wie ich. Ich finde eine Ausbildung zum Shamanic Healer auf der Seite und fülle den Bewerbungsbogen aus. Dazu vereinbare ich einen Gesprächstermin. Das Gespräch verläuft so, als würden wir uns schon lange kennen. Stunden später sage ich der Frau vom Institut ab, weil ich Angst habe. Angst, dass meine Frau das allzu schräg findet. Angst, dass ich meine Familie verliere. Ich erzähle meiner Frau, dass das ein ganz tolles Programm ist, welches aber leider für mich nicht funktioniert. 

Am nächsten Tag suche ich auf YouTube nach Lindsey Stirling. Ich weiß gar nicht warum, aber es ist mir irgendwie danach. Ich habe die Musik seit 2013 nicht mehr gehört. Wieder einmal dominierte das Fahrrad. Ich höre die Songs von damals und die vielen neuen. Und bin völlig geflashed. Und dann sehe ich es vor mir: Ich stehe am Mt. Hood und spiele Geige. Ich bin restlos verwirrt. Was soll das denn jetzt? Meine Frau spricht mich an: „Du hast dieses Leuchten in den Augen gehabt. Du musst das machen mit diesem Programm.“ Ich bin sprachlos. Sie hat es vor mir gewusst. Niemand verliert hier irgendwen. „Und das mit Finnland machen wir auch.“

Unbedingte Bindung und absolute Freiheit sind miteinander verschmolzen. Das ist das, was ich seit etwa 30 Jahren immer wollte. Das ist das, was mich glücklich macht. So dass ich die Geige wieder raus hole, die meine Seele berührt. Der Kern meiner Ausbildung in den USA lautet: Seelenrückführung.

2024 Nikolaj Mosch

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